Leere Flaschen, massenweise im Wohnzimmer verteilt, gaben dem Gesamtbild vom Anblick meines volltrunkenen Vaters den Rest. Mein Weg führte mich eine Tür weiter zum Schlafzimmer meiner Eltern. Wo sonst sollte sie sein. Als ich sie vor ein paar Tagen das letzte mal sah, war ihr Gesundheitszustand schlechter gewesen, als die Wochen zuvor. Langsam und leise drückte ich die Türklinke nach unten. Nichts. Die Tür war verschlossen. Plötzlich knallte eine Handfläche in meiner Kopfhöhe auf die Schlafzimmertür. Der modrige Alkoholgeruch lies mich würgen. „Wer hat dir denn erlaubt euch mein Haus zu schleichen und mein verdammtes Essen zu stählen?“ Ich hatte leider vor Schreck nicht bemerkt, wie die Scheibe Brot aus meinen Sachen gefallen ist. Ich schwieg, machte auf dem Absatz kehrt und rannte Richtung Treppe. So schnell mich meine Füße tragen konnten, nahm ich zwei Stufen mit einmal. Schnell schlüpfte ich in mein Zimmer und hörte nur noch wie ein lauter Knall, gefolgt von splitterndem Glas, an meiner geschlossenen Zimmertür hallte. Mein Erzeuger muss wohl wieder eine Flasche nach mir geworfen haben. Nicht immer hatte ich soviel Glück wie heute. Ich erinnere mich an jede Schnittwunde.
Auch diese Nacht sollte ich keinen Schlag finden. Die Gedanken kreisten um meine Mutter. Ging es ihr gut? Wieso war die Tür versperrt? Morgen fing die Schule wieder an, also konnte ich erst am Nachmittag wieder versuchen nach ihr zu sehen. Der Gedanke an den Schulalltag lies meinen Schlaf in noch weiterer Ferne wandern. Meine Mitschüler konnten mit dem stillen, blassen, dürren Mädchen nichts anfangen. Wie auch? Wenn ich nicht mal nach der Schule was unternehmen dürfte. Selbst die „Nerds“ oder „Streber“ hatten mehr soziale Kontakte wie ich. Ich konnte ja nicht mal mit einem technischem Gerät glänzen. Irgendwann muss ich schließlich doch eingeschlafen sein. Die Kirchturmuhr schlug fünf mal. Ich schreckte hoch und suchte in meinem Bett nach Bob. Doch der war nicht da. Es würde wohl noch eine Weile dauern, eh ich dies wirklich begriff. Eh ich zu lange darüber nachdenken konnte, suchte ich saubere Sachen, zog mich an und packte meine Schulsachen zusammen. Wie alles andere in meinem Leben, war auch mein Rucksack in einem miserablen Zustand. Trotzdem möchte ich ihn. Ich war so in Eile, dass ich barfuß aus meinem Zimmer stürmte und die verdammten Glassplitter vergaß. Tränen brannten in meinen Augen, als die scharfen Scherben in meine Fußsohlen schnitten. Stumm ertrug ich meine eigene Dummheit. Ich eilte ins Bad, riss ein Handtuch so, dass ich eine Art Verband anlegen konnte. Nun musste ich mich echt beeilen. Da ich kein Geld für den Bus hatte, musste ich zu Fuß zur Schule eilen. Mit dem Fahrrad fahren? Wäre toll, aber weder kann ich Fahrrad fahren noch besitze ich eins. Nele null Punkte, beschmissene Schicksal eins. Leider führte mein Schulweg am Bauernhof von Herrn Springer vorbei. Mein Herz raste, mein Bauch krampfte, die Luft blieb mir weg und mir stand kalter Schweiß auf der Stirn. Mein Körper begann zu Beben, meine Beine wollten mir schier nicht daran vorbei bringen. Noch eine Macke mehr auf meiner Liste: Panikattacke. Macht sich gut in meinem Lebenslauf, gleich neben der Sozialphobie und dem PTBS. Schließlich beschloss ich meine Augen zu schließen und am Hof von Herrn Springer vorbei zu rennen. Ich rannte so schnell ich konnte. Der Wind trieb mir Tränen in die Augen, zumindest versuchte ich mir innerlich diese Ausrede einzubläuen.
Der Schultag verlief zu meiner vollsten Zufriedenheit. Ich sollte nicht enttäuscht werden. In meinem Spint lag Müll aus der Mädchentoilette, an meinem Hintern klebte ein Kaugummi welcher vorher auf meinem Stuhl lebte, meine Haare waren nun rechts ein wenig kürzer da Sophia Stephens meinte meine Haare anzünden zu müssen. Still nahm ich alles hin. Es hätte schlimmer sein können. So wusste ich, dass ich tatsächlich am Leben war und wahrgenommen wurde. Wo mein Optimismus her kam? Ich malte mir meine baldige Zukunft aus. Wie diese sein sollte? Besser! Meine Noten waren gut. Der Unterrichtsstoff lenkte mich ab, lernen machte Spaß. Mein Highlight des Tages war jedoch Agnes. Die gute Fee aus der Kantine. Immer wenn es sich ergab, öffnete sie die Hintertür, also den Liefereingang für das Essen, wo ich meist saß, und gab mi Reste. So hatte ich eine Mahlzeit pro Tag an fünf Tagen in der Woche. Es kam selten vor, dass sie nicht da war. Diese kleinen Dinge machten mich glücklich. Nach Schulende ging ich wieder sehr zügig an dem Anwesen von Herrn Springer vorbei. Schließlich wollte ich schnell zu meiner Mutter nach Hause. Zu Hause angekommen, öffnete ich zaghaft die Eingangstür. Es war ruhig, der Wagen meines Vaters stand nicht in der dürftigen Garage. Also rief ich nach ihr „Mama?“ Stille. Ich schaute in alle Räume, nichts. Ich klopfte an der Schlafzimmertür, keiner Antwortete. „Mum? Bist du da?“, keine Antwort. Ich beschloss zur Hintertür, hinaus in den Garten, zu gehen. So kam ich zum Schlafzimmerfenster, um einen Blick ins Innere zu riskieren. Mist. Natürlich waren die Vorhänge der Fenster zugezogen.
Die Tage vergingen, meinem Vater ging ich aus dem Weg, so gut ich konnte. Ab und an sah ich ihn ins Schlafzimmer gehen, was mich etwas beruhigte, oder doch eher beunruhigte? Meine Prüfungen hatte ich jedenfalls alle hinter mich gebracht und sehr gut abgeschlossen, was das anging war ich mit der Welt im reinen. Einen Studienplatz hatte ich auch sicher (natürlich weit weg von hier), denn mein Abi sollte schließlich mein Schlüssel in die Zukunft sein. Die Abschlussfeier umging ich mit einer Notlüge und lies mir mein Zeugnis ohne großes Tamtam geben. Wieder konnte ich mich sehr pünktlich, bevor Mein Vater zuhause sein würde, auf den Heimweg machen. Ich sag schon unser Haus von weitem, als plötzlich neben mir ein Wagen hielt. Als ich sah wer es ist, fielen mir wahrscheinlich fast die Augen aus meinem Kopf. Es war Herr Springer. „Hallo“, flüsterte ich verlegen. Es war mir peinlich, ihn nach allem was passiert war, wieder zu sehen. „Nele. Endlich erwische ich dich mal. Hör mir zu,“ sprach er hastig weiter, während seine Augen die Umgebung absuchten „uns bleibt sicher nicht viel Zeit, bis dein Vater uns sieht. Hier, nimm diesen Schlüssel. Am Bahnhof sind Schließfächer, gehe in den Gang und halte dich links. Schließfach 701, hörst du?“ ich nickte hastig und kämpfte mit den Tränen. Leise sprach er weiter „Nele, geh und schau nicht mehr zurück. Du musst hier weg. Nur weil niemand darüber redet, wissen doch alle was in deinen vier Wänden los ist. Du hast aber die Chance aus dir und deinem Leben etwas zu machen.“ ich schniefte nur, toll Penelope. Wirklich. Herr Springer sah mich einen Moment schweigend an „Steck den Schlüssel gut weg und erzähle niemandem davon.“ er sah sich um, seine Augen waren glasig und er wirkte traurig. Zum Abschied nickten wir einander zu und er fuhr davon.